Walk the Walk in a Bavarian Tagenbuch
Es gibt ein wundervolles Wagnis bei den Arbeiten von Amie Oliver. Im Angesicht von van Goghs Errungenschaften braucht es eine Menge Mut oder ziemlich viel Naivität, wenn man der heutigen Öffentlichkeit Bilder von Sonnenblumen, vor allem in Verbindung mit Porträts, zeigt. Diese für sich „im Stillen" zu malen ist eine Sache, sie aber öffentlich zu machen schon eine andere. Dennoch ist es genau das, was Oliver gemacht hat und womit sie ihr Publikum herausfordert, ihre Arbeit ernst zu nehmen. Doch wie hat sie das bewerkstelligt? Die Arbeiten sind in einer realistischen(d.h. einer nicht-avantgardistischen) Weise übersetzt worden, die der modernen Ästhetik wenig Beachtung schenkt; weder beziehen sie die Moderne vollständig ein, noch stellen sie sich ihr stur entgegen.
Welche Referenzen ermöglichen dem heutigen Publikum infolgedessen Zugang zu solchen Arbeiten, einem Publikum, dessen ästhetisches Verständnis größtenteils von avantgardistischen Ideen der Moderne geprägt wurde?
Es ist gar keine Frage, dass die Avantgarde die Kultur der Moderne mindestens seit Mitte des 19. Jahrhunderts charakterisiert hat. In Frankreich, angefangen mit Courbets Gemälde „Das Atelier des Künstlers" von 1855 und dann besonders in der Zeit von Manets kontroversen Gemälden von 1863, „Das Frühstück im Freien" und „Olympia", wurde klar, dass sich ein bewusster Bruch mit der Tradition im Bereich der Kultur ereignete.
Dieser Bruch hallte auch in den Entwicklungen anderer Bereiche wie Industrie und Technologie wider. Als der Fortschritt in diesen Bereichen anwuchs, gewann „das Neue" immer größere Bedeutung, und modern zu sein hieß nicht nur, die bestehende Ordnung anzugreifen indem man alte Herangehensweisen ablehnte, sondern es bedeutete auch eine nahezu bedingungslose Übernahme des „Neuen", als Realität sowie als Idee.
Vielleicht symbolisierte die Idee des „Neuen" den Fortschritt der Moderne und „das Neue" als Weg zu einem besseren Leben wurde zur „promesse de bonheur", die die Moderne antrieb.
Für Künstler des 19. Jahrhunderts wurde das Alte von der Akademie und ihrer Traditionen verkörpert. Jegliche Annäherung an die moderne Gesinnung bedeutete eine Ablehnung dieser Traditionen. Es bedeutete eine Aufgabe der klassischen Grundlagen, welche das Fundament des figurativen Realismus formten und eine Zuwendung zur Entdeckung neuer Formen und den Gebrauch neuer Materialien. In seiner extremsten Form, der Avantgarde, führte die moderne Gesinnung der Rebellion zu Entscheidungen hinsichtlich Form und Material, die vielmehr aufgrund ihres Schockvermögens als ihres künstlerischen und ästhetischen Wertes getroffen wurden; das ist schon bei den oben genannten Werken von Courbet und Manet sichtbar. Die Suche nach dem „Neuen" und die Erkundung dieses unbekannten Gebiets wurde zum inoffiziellen Ziel des Künstlers in der modernen Gesellschaft, vor allem das des Avantgarde-Künstlers. Trotz theoretischer Diskussionen über die Postmoderne und angeblich neuer kritischer Denkweisen verharrte dieses Ziel größtenteils an seinem Platz.
Die Neuerfindung der Form und der Gebrauch neuer Materialien und Medien zeigen immer noch auf, was als Vorreiterrolle in der Kunst angesehen wird; kurz gesagt, „das Neue" stellt immer noch den Rahmen, mit dem zeitgenössische Kunst beurteilt wird.
Das erklärt auch das aktuelle Phänomen, bei dem jungen Kunststudenten eine große Karriere machen können, noch bevor sie überhaupt ihr Studium abgeschlossen haben. Der Gedanke des langsamen Reifens und die Entwicklung der künstlerischen Arbeiten, etwas das durch eine ausgeprägte Sicht auf die Welt im Laufe des Alters errungen wird, spielt in diesem Szenario keine Rolle mehr – wie Thorstein Veblen in den ersten Jahren des letzten Jahrhunderts sagte: „Im Kampf zwischen Jung und Alt wird die Jugend Recht behalten!"
Aber wie kann eine Idee noch fortschrittlich sein, die schon seit über einem Jahrhundert besteht?
Hinsichtlich der vielen Veränderungen, die wir alleine in unserem eigenen Leben bisher miterlebt haben, können da die modernen Ideen des frühen 19. Jahrhunderts immer noch einen sinnvollen Kontext für die Kunst unserer Zeit stellen?
Um es hinsichtlich ihrer Arbeiten zu beurteilen, befasst sich Oliver mit diesem Problem in unüblicher Weise. Weder umfasst sie „das Neue" oder schließt es von vornherein aus; sie ignoriert es einfach, indem sie es nicht als ausschlaggebend für die heutige Kunst empfindet.
Somit macht sie die ganze Frage nach „dem Neuen" nicht nur irrelevant, sie untergräbt auch die Idee von einem avantgardistischen Bezugssystem. Mit dem Ergebnis, dass ihre Arbeiten und die der ihr gleichgesinnten Künstler unbeabsichtigt eine radikale Stellung anderer Art annehmen. Da ihre Kunst weder schlicht als reaktionär oder rückschrittlich abgetan werden, noch vollkommen als wegbereitend angesehen werden kann, setzt sie sich einer einfachen Kategorisierung und einer darauf folgenden Beurteilung entgegen (ob im positiven oder negativen Sinne). In diesem Sinne trügerisch und gerissen zu sein, mag der Punkt bei Olivers Kunst sein, sicherlich beinhaltet es ein Maß an kritischer Haltung gegenüber „dem Neuen" und ein Bewusstsein der heutigen sozialen Verfassung, in der die avantgardistische Unternehmung Amok lief. Heutzutage wird das Konzept der Avantgarde in der Kunst vom Kommerz übernommen, der nicht endende Strom an Werbungen mit neuen Produkten, so genannten „must-haves", zeigt das deutlich auf. Wir leben in einer Zeit, in der die ursprüngliche Idee des „Neuen" so gründlich von der spätkapitalistischen Kultur im Namen des Kommerz ausgebeutet wurde, so dass sich eine Annahme dieser Idee vielmehr wegen der aktuellen Modeerscheinung und ihrer Neuheit vollzog als eine geniale Rebellion in der Hoffnung auf soziale Veränderung zu sein.
Bei diesen Umständen kann „das Neue" nicht mehr als Revolution gegenüber einengenden und veralteten Traditionen verstanden werden.
Die Ansicht, dass die ästhetische Bedeutung nur auf einer Radikalisierung der Form, des Materials und des Mediums basieren sollte, ist nicht mehr so überzeugend wie sie einmal war. Letztendlich ist nicht nur die zeitgenössische Kunst zu einem Teil der Mainstream-Kultur geworden, auch die kulturelle Entweihung der modernen Gattung wird vielleicht bedeutungslos, wenn „das Neue" selbst zum Status Quo wird.
Sich gegen diese Situation zu stellen, heißt nicht, dass Amie Oliver oder irgendein anderer zeitgenössischer Künstler von der Frage nach der „stilistischen Kompetenz" freigesprochen wird. Es heißt eher, dass „stilistische Kompetenz" jetzt anders verstanden werden muss. Im Fall von Olivers Arbeiten dienen formelle Elemente, Linie und Farbe eingeschlossen, der Thematik und können nicht von Bedeutung und Inhalt getrennt werden. In ihren neusten Arbeiten beispielsweise vermeidet Oliver sorgfältig klare, starke Farben, die ihnen eine dekorative Lebendigkeit geben würden. Stattdessen wählt sie Farben mit sich beißenden Farbtönen. Hauchdünn aufgetragen scheinen diese Farben wie in der Luft zu schweben, als wären es gestaltlose Schleier, die im Raum treiben. Normalerweise erscheinen solche Farben am Rande zur Auflösung ins Formlose, zum reinen atmosphärischen Effekt zu werden; hier jedoch werden sie durch die Linie aus sicherer Hand in einem unruhigen Gleichgewicht gehalten. Diese Zeichnungen verankern ihre Farben auf der Oberfläche der Leinwand. Darüber hinaus haben sie eine eindringliche Körperlichkeit, die sichtbar wird, selbst wenn sie den Formen nur unmerklich Leben einhaucht, das einer menschlichen Figur oder einer Sonnenblume.
Auch wenn Olivers Arbeiten nicht unbedingt eine existenzielle Handschrift aufweisen, wie es zum Beispiel beim abstrakten Expressionismus der 50er Jahre der Fall ist, sind sie dennoch eine Ablehnung von anonymen, undifferenzierten Oberflächen, die typisch für fotografische oder digitale Bilder sind. Indem sie die Präsenz der Hand verdeutlicht ist ihre Handschrift genau so wichtig wie das Thema, mit dem sie sich beschäftigt. Eines der Dinge, dass ihre „Handarbeit" offen legt, ist die tiefe Verbindung zwischen der Künstlerin und dem Sujet während des Entstehungsprozesses. Das Behandelte ist nicht irgendetwas da draußen, abgelöst und getrennt vom Künstler, nur darauf wartend, von diesem in einem Augenblick eingefangen zu werden wie ein in der freien Natur lebendes Tier. Es besteht ein Moment intensiver und vorsichtiger Beobachtung, ausgehend davon erscheint nach und nach das Sujet vor den Augen der Künstlerin.
Die Thematik spielt wiederum eine andere Rolle in Olivers Arbeiten. Es bewahrt ihre Arbeiten davor, etwas zusammenhangslos aus der Vergangenheit zu holen, in der Gegenwart ohne jede Verbindung zur lebendigen Kunsttradition zu isolieren. Dass sie auf solche Verbindungen zur Vergangenheit besteht – und diese nicht einfach im Namen der Moderne abzulehnen – reduziert ihr Werk in keiner Weise. Eigentlich ist es genau anders herum. Es gibt ihren Arbeiten eine zusätzliche Bedeutung und Resonanzmöglichkeit durch die Assoziationen, die sie hervorruft. Gleichzeitig beeinflusst das Verständnis des Betrachters für die bisherige Kunstgeschichte, zum Beispiel seinen Blick auf van Gogh. Im Gegensatz zu seinen Sonnenblumen sind ihre ausgetrocknet, nicht mehr in der Lage, dem Verlauf der Sonne zu folgen, sie biegen und krümmen sich wie Soldaten, die nicht mehr stramm stehen können.
Ihnen haftet etwas Nachdenkliches an, das sich vor allem in Olivers Porträts äußert.
Ihre Arbeiten von Verfall und Vergänglichkeit durchdrungen, etwas das sich ganz klar von den jugendlich lebendigen Sonnenblumen van Goghs unterscheidet.
Olivers Werk, wie jede andere geniale Kunst, beeinflusst unsere Sicht auf und unser Verständnis von früheren Werken. Zur gleichen Zeit erschafft sie einen Raum, in dem sie ihren Arbeiten ihre eigene Präsenz und Lebendigkeit gibt.
Wie es sich Amie Olivers Kunst zeigt, Kunstwerke erhalten durch eine bewusste Bezugnahme ganz neue Perspektiven und Ansatzmöglichkeiten. All das braucht es, wenn ein Künstler bereit und natürlich auch fähig ist, Werke der bisherigen Kunstgeschichte herauszufordern.
-Howard Risatti
translated by Martin Wiesinger
Labels: bavaria, exhibitions, great conversations, walk the walk
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